Dienstag, 1. Dezember 2015

Die protestantische Ethik und der kapitalistische Geist (Max Weber)



Seit etwas mehr als 110 Jahren ist die Max Webers Abhandlung „Die protestantische Ethik und der kapitalistische Geist“ ein Klassiker. Es ist ein viel beachtetes und viel diskutiertes Werk. Dabei war der Soziologe nicht der Erste, der eine Kausalität zwischen protestantisch-asketischer sowie methodischer Grundhaltung und kapitalistischer Entwicklung erkannte, so der Soziologe Dirk Kaesler. Selbst wenn man die zahlreichen Werke von Karl Marx und Friedrich Engels irgendwie zusammenklamüsert, sticht ein Zusammenhang zwischen der kapitalistischen und protestantischen Entwicklung hervor. Insofern hat Kaesler recht, dass Webers Aufsatz nicht als Gegenentwurf zu den Thesen von Marx und Engels gewertet werden könne. Im Grunde genommen widersprechen sich die drei nicht einmal sonderlich. Lediglich eine Präzision nahm Weber vor, indem er zwischen „ökonomisch relevanten“ und „ökonomisch bedingten“ Erscheinungen unterscheidet. Doch letztendlich bediente sich Weber des Marxismus, weil er den Begriff des Kapitalismus verwendet. Marx und Engels waren nämlich die Ersten im deutschen Sprachraum, die im wissenschaftlichen Zusammenhang die Worte „kapitalistische Produktionsweise“, „Kapital“ und „Kapitalismus“ verwandt haben. Genauso erkannte Weber die These von Marx an, wonach Geld kein Kapital ist und es zur Vermehrung investiert werden muss. Und so gibt es viele, viele Parallelen zwischen Weber auf der einen Seite und Marx sowie Engels auf der anderen Seite.
 
Trotzdem gibt es Knackpunkte in Webers Theorie. So schreibt er, dass die protestantische Askese und Methodik den Kapitalismus bedingten. Sicherlich, der Kapitalismus konnte unter den gegebenen Umständen seinen Ausgang nur in den protestantischen Ländern Europas nehmen. Schließlich sorgte der Protestantismus für eine gewisse Befreiung des Menschen. Doch in Bezug auf die Entwicklung des Kapitalismus zeigen sich Ungenauigkeiten gegenüber den calvinistischen Niederlanden, dem lutherischen Hamburg, dem lutherischen Mecklenburg und dem evangelisch-unierten Pommern.

So gab es bereits im 15. Jahrhundert und damit vor der Reformation in den Niederlanden und in Hamburg frühe Anzeichen für kapitalistische Auswüchse. Und zwar in der Form eines Handelskapitalismus. Dagegen dümpeln Mecklenburg und Pommern noch immer vor sich hin. Es sind nur geringe Anzeichen von kapitalistischen Produktionsweisen in Mecklenburg und Pommern erkennbar, weil es einfach nicht industrialisiert ist. Dennoch ist Mecklenburg-Vorpommern dem Kapitalismus unterworfen, auch wenn es kaum Güter produziert.

Insofern stellt sich die Frage, wer was bedingte. Bedingten die evangelischen Konfessionen wie die Quäker, Methodisten und andere den Kapitalismus, wie es Weber behauptet? Oder bedingten kapitalistische Anfänge die Reformation?

Dass sich die Reformation besonders im Norden Europas und damit weit weg von Rom durchsetzte, ist nur allzu einleuchtend. Schließlich sind die britischen Inseln aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage nur schwer militärisch bezwingbar. Und so entzogen sich England, Schottland und Wales dem Dreißigjährigen Krieg. Doch auch die skandinavischen Länder sind aus römischer Sicht schwer zu bezwingen. Schließlich sind auch sie weit entfernt und haben viel Wasser zwischen sich und Mitteleuropa. Außerdem war Schweden eh spät christianisiert, weshalb keine sonderliche Bindung an Rom ausgeprägt war.

Im Zuge des Dreißigjährigen Krieges kristallisierte sich dann die Vormachtstellung Schwedens im Ostseeraum heraus. Doch obwohl es Zwistigkeiten zwischen der schwedisch-protestantischen und der polnisch-katholischen Wasa-Sippe gab, war Schweden nicht auf Territorialgewinne erpicht, sondern auf die Beherrschung von küstennahen Handelszentren wie Bremen, das mecklenburgische Wismar, das lettische Riga, das estnische Tallinn und anderen Hansestädten. Insofern scheint der Protestantismus, als Mittel zur Durchsetzung des Handelskapitalismus zu dienen. Zumindest in diesem Fall. Auch in den Niederlanden und der Schweiz hatte der Protestantismus offenbar nur einen Zweck, indem er zur Befreiung vom habsburgisch geprägten Deutschen Reich diente. Also sollte man sich anschauen, wer den Protestantismus begründete und in welchen Regionen er sich durchsetzte.

Jan Hus müsste man eigentlich als ersten Protestanten schlechthin bezeichnen. Schließlich wurde er um 1369 geboren und starb 1415. Damit lebte weit vor Martin Luther (1483 bis 1546). Hus entstammte vermutlich der unteren Mittelschicht. Sein Vater soll nämlich Fuhrmann gewesen sein. Und so besuchte Hus die Lateinschule im damaligen Prachatitz. Später studierte er an der Prager Karls-Universität und war zeitweise dessen Rektor. Jedoch machte er sich als Theologe und Reformator einen Namen. Außerdem prägte er die tschechische Linguistik. Somit war Hus vielmehr ein böhmischer Separatist, als ein Theologe.

Martin Luthers Herkunft ist der Hus‘ ähnlich. Luther entstammte einer bürgerlichen Familie, weil sein Vater Mineneigner war. Auch Luther besuchte verschiedene Schule und studierte später die Sieben freien Künste (Septem artes liberales), Jura und anschließend Theologie in Erfurt.

Ein anfänglich großer Bewunderer Luthers war Thomas Münzer. Scheinbar entstammte auch er einer bürgerlichen Familie, wobei Friedrich Engels in seinem Werk „Die Deutschen Bauernkriege“ schrieb, dass sein Vater „ein Opfer der Willkür der Stolbergschen Grafen“ gewesen sein soll. Trotzdem besuchte auch Münzer später die Schule und studierte in Frankfurt an der Oder Theologie. Schulbildung und Hochschulstudium waren zur damaligen Zeit lediglich den höheren Klassen vorbehalten, und Begabtenförderungen gab es damals nicht.

Und auch Johannes Calvin entstammte dem Bürgertum. Sein Vater war kirchlicher Notar und Richter des Domkapitels Noyon. Und aufgrund der Herkunft seines Vaters nahm Calvin an dem häuslichen Unterricht der Adelskinder teil. Wie Luther studierte Calvin die sieben freien Künste, Jura und später Theologie an verschiedenen französischen Universitäten.

Huldrych Zwingli stellt ebenfalls keine Ausnahme dar. Sein Vater war oberster Dienstmann seines Lehnsherrn. Er wurde an der Lateinschule in Basel und Bern unterrichtet. Später studierte er Theologie in Wien und Basel.

Das sind die in Europa bedeutenden Reformatoren. Doch auch die in den USA bedeutenden Reformatoren britischer Abstammung wie John Wesley und George Fox stellen im Vergleich zu Hus, Luther, Münzer, Calvin und Zwingli keine Ausnahme dar. Wesley, der Begründer des Methodismus, entstammt einer Pfarrerdynastie und Fox, der Gründer der Quäker, einem bürgerlichen Elternhaus. Fox‘ Vater war Wollhändler.

Insofern weisen Hus, Luther, Münzer, Calvin, Zwingli, Wesley und Fox die Anfänge eines bürgerlichen Bewusstseins auf, weil es ihrem gesellschaftlichen Stand entsprach. Schließlich bestimmt das Sein das Bewusstsein.

Doch das sind nur Reformatoren. Wichtig ist auch, wo sich im Heiligen Römischen Reich die Reformation vor dem Dreißigjährigen Krieg vollzog. So etwa in Sachsen, wo sich die Reformation von Wittenberg aus verbreitete, bis 1527 die evangelisch-lutherische Kirche in Sachsen gegründet wurde. Sachsen und sein Kurfürst Friedrich der Weise wurden reich durch die Silberminen im Erzgebirge. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich der Kurfürst schützend vor Luther stellte, schließlich drückte Friedrich damit seine Abnabelung vom Kaiser aus.

Die Hansestadt Lübeck war ebenfalls reich. Und von 1522 bis 1530 setzte sich auch hier die Reformation durch. Genauso Hamburg, das ebenfalls reich war und seit 1529 reformiert ist. Aber auch die Hansestadt Dortmund. Quellen aus dem Jahr 1296 sollen bereits den ersten Bergmann unter den Dortmunder Bürgern belegen. Im Jahr 1572 setzte sich dann die Reformation in Dortmund endgültig durch. Diese drei Hansestädte Lübeck, Hamburg und Dortmund erfuhren großen Reichtum durch den Handel. Insofern bedingte das beginnende Bürgertum die Reformation.

Und somit ist der Protestantismus nicht nur ein theologisches Bekenntnis oder eine Geisteshaltung, sondern genauso eine Befreiungsbewegung der frühen Neuzeit und des entstehenden Bürgertums. Bereits während der Reformation zeigten sich Anfänge eines entstehenden bürgerlichen Selbstbewusstseins, indem sich Bürgerkinder wie Hus, Luther, Münzer, Calvin, Zwingli, Wesley und Fox der Theologie zuwandten und diese mit ihren durchaus revolutionieren Ideen vereinten. Damit ist Webers Aussage, wonach manche protestantische Gruppierungen den Kapitalismus bestärkten und befeuerten, nicht gänzlich richtig. Genauso bedingte der frühe Kapitalismus die Reformation. So erhofften sich die Reformer durchaus eine gewisse Befreiung der Menschen. Diese Befreiung hatte verschiedene Schattierungen. Während Münzer sich eine vollkommene irdische Befreiung der Bauern erhoffte, definierte Luther die Freiheit im Glauben. Dagegen erklärte Calvin „ora et labora“ (bete und arbeite) zu seinem Leitmotiv, obwohl dieser Ausspruch von den katholischen Benediktinermönchen stammt. Damit definierte Calvin sein Verständnis von Freiheit, wonach der Mensch auf Erden Gott dient und Werke zu Gottes Ehre verrichtet. Dadurch erlangt der Mensch Freiheit, die sich im Jenseits abspielt. Calvins These kann man mit den Worten „Arbeit macht frei“ zusammenfassen. Jedoch ist dieser Ausspruch durch das Konzentrationslager Ausschwitz und den dort erfolgten Verbrechen schwer belastet.

Außerdem macht Arbeit nicht unbedingt frei. Dieser Ausspruch ist genauso falsch wie Angela Merkels Ausspruch: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ Auch dieses Bonmot in seiner unverwechselbar merkelschen Ausdrucksweise war bereits seit den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von Karl Marx widerlegt. Laut Marx beinhaltet Lohnarbeit Selbstentfremdung und kann somit nicht zur Freiheit oder etwas Sozialem führen.

Trotzdem scheiterten manche Befreiungsversuche der Reformatoren, während andere erfolgreich waren. Das lag einerseits an der Uneinigkeit am Freiheitsverständnis der Reformatoren. So hatten die reformatorischen Theologen oftmals keine einheitlich wissenschaftliche Definition von Freiheit, weil sie trotz gleicher sozialer Herkunft unterschiedlich geprägt wurden und verschiedene Absichten verfolgten. Außerdem kamen manche Freiheitsbewegungen zu früh, während andere rechtzeitig waren. So war Münzer zu früh und Luther dagegen rechtzeitig. Dennoch erbrachten die Reformatoren ihren historischen Verdienst, indem sie die Menschen sowie die restliche Weltlichkeit von der Kirche emanzipierten. Das schuf weitere Freiheiten, damit der Kapitalismus weiter verbreiten konnte. Allerdings ist es nicht verwunderlich, dass sich der Protestantismus in den oberen Klassen herausbildete. Ein Anzeichen also für das Aufkeimen eines bürgerlichen Bewusstseins. Denn damals gab es keine Laienbewegung und Gottesdienste wurden nicht in den jeweiligen Landessprachen abgehalten, sondern in Latein.

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