Seit etwas mehr als 110 Jahren
ist die Max Webers Abhandlung „Die protestantische Ethik und der
kapitalistische Geist“ ein Klassiker. Es ist ein viel beachtetes und viel diskutiertes
Werk. Dabei war der Soziologe nicht der Erste, der eine Kausalität zwischen
protestantisch-asketischer sowie methodischer Grundhaltung und kapitalistischer
Entwicklung erkannte, so der Soziologe Dirk Kaesler. Selbst wenn man die
zahlreichen Werke von Karl Marx und Friedrich Engels irgendwie
zusammenklamüsert, sticht ein Zusammenhang zwischen der kapitalistischen und
protestantischen Entwicklung hervor. Insofern hat Kaesler recht, dass Webers
Aufsatz nicht als Gegenentwurf zu den Thesen von Marx und Engels gewertet werden
könne. Im Grunde genommen widersprechen sich die drei nicht einmal sonderlich.
Lediglich eine Präzision nahm Weber vor, indem er zwischen „ökonomisch
relevanten“ und „ökonomisch bedingten“ Erscheinungen unterscheidet. Doch
letztendlich bediente sich Weber des Marxismus, weil er den Begriff des
Kapitalismus verwendet. Marx und Engels waren nämlich die Ersten im deutschen
Sprachraum, die im wissenschaftlichen Zusammenhang die Worte „kapitalistische
Produktionsweise“, „Kapital“ und „Kapitalismus“ verwandt haben. Genauso erkannte
Weber die These von Marx an, wonach Geld kein Kapital ist und es zur Vermehrung
investiert werden muss. Und so gibt es viele, viele Parallelen zwischen Weber
auf der einen Seite und Marx sowie Engels auf der anderen Seite.
Trotzdem gibt es Knackpunkte in
Webers Theorie. So schreibt er, dass die protestantische Askese und Methodik
den Kapitalismus bedingten. Sicherlich, der Kapitalismus konnte unter den
gegebenen Umständen seinen Ausgang nur in den protestantischen Ländern Europas
nehmen. Schließlich sorgte der Protestantismus für eine gewisse Befreiung des
Menschen. Doch in Bezug auf die Entwicklung des Kapitalismus zeigen sich
Ungenauigkeiten gegenüber den calvinistischen Niederlanden, dem lutherischen
Hamburg, dem lutherischen Mecklenburg und dem evangelisch-unierten Pommern.
So gab es bereits im 15.
Jahrhundert und damit vor der Reformation in den Niederlanden und in Hamburg
frühe Anzeichen für kapitalistische Auswüchse. Und zwar in der Form eines Handelskapitalismus.
Dagegen dümpeln Mecklenburg und Pommern noch immer vor sich hin. Es sind nur
geringe Anzeichen von kapitalistischen Produktionsweisen in Mecklenburg und
Pommern erkennbar, weil es einfach nicht industrialisiert ist. Dennoch ist
Mecklenburg-Vorpommern dem Kapitalismus unterworfen, auch wenn es kaum Güter
produziert.
Insofern stellt sich die Frage,
wer was bedingte. Bedingten die evangelischen Konfessionen wie die Quäker,
Methodisten und andere den Kapitalismus, wie es Weber behauptet? Oder bedingten
kapitalistische Anfänge die Reformation?
Dass sich die Reformation
besonders im Norden Europas und damit weit weg von Rom durchsetzte, ist nur allzu
einleuchtend. Schließlich sind die britischen Inseln aufgrund ihrer strategisch
günstigen Lage nur schwer militärisch bezwingbar. Und so entzogen sich England,
Schottland und Wales dem Dreißigjährigen Krieg. Doch auch die skandinavischen
Länder sind aus römischer Sicht schwer zu bezwingen. Schließlich sind auch sie
weit entfernt und haben viel Wasser zwischen sich und Mitteleuropa. Außerdem
war Schweden eh spät christianisiert, weshalb keine sonderliche Bindung an Rom
ausgeprägt war.
Im Zuge des Dreißigjährigen
Krieges kristallisierte sich dann die Vormachtstellung Schwedens im Ostseeraum
heraus. Doch obwohl es Zwistigkeiten zwischen der schwedisch-protestantischen
und der polnisch-katholischen Wasa-Sippe gab, war Schweden nicht auf
Territorialgewinne erpicht, sondern auf die Beherrschung von küstennahen
Handelszentren wie Bremen, das mecklenburgische Wismar, das lettische Riga, das
estnische Tallinn und anderen Hansestädten. Insofern scheint der
Protestantismus, als Mittel zur Durchsetzung des Handelskapitalismus zu dienen.
Zumindest in diesem Fall. Auch in den Niederlanden und der Schweiz hatte der
Protestantismus offenbar nur einen Zweck, indem er zur Befreiung vom
habsburgisch geprägten Deutschen Reich diente. Also sollte man sich anschauen,
wer den Protestantismus begründete und in welchen Regionen er sich durchsetzte.
Jan Hus müsste man eigentlich als
ersten Protestanten schlechthin bezeichnen. Schließlich wurde er um 1369
geboren und starb 1415. Damit lebte weit vor Martin Luther (1483 bis 1546). Hus
entstammte vermutlich der unteren Mittelschicht. Sein Vater soll nämlich
Fuhrmann gewesen sein. Und so besuchte Hus die Lateinschule im damaligen
Prachatitz. Später studierte er an der Prager Karls-Universität und war
zeitweise dessen Rektor. Jedoch machte er sich als Theologe und Reformator
einen Namen. Außerdem prägte er die tschechische Linguistik. Somit war Hus
vielmehr ein böhmischer Separatist, als ein Theologe.
Martin Luthers Herkunft ist der
Hus‘ ähnlich. Luther entstammte einer bürgerlichen Familie, weil sein Vater
Mineneigner war. Auch Luther besuchte verschiedene Schule und studierte später
die Sieben freien Künste (Septem artes liberales), Jura und anschließend
Theologie in Erfurt.
Ein anfänglich großer Bewunderer
Luthers war Thomas Münzer. Scheinbar entstammte auch er einer bürgerlichen
Familie, wobei Friedrich Engels in seinem Werk „Die Deutschen Bauernkriege“
schrieb, dass sein Vater „ein Opfer der Willkür der Stolbergschen Grafen“
gewesen sein soll. Trotzdem besuchte auch Münzer später die Schule und
studierte in Frankfurt an der Oder Theologie. Schulbildung und Hochschulstudium
waren zur damaligen Zeit lediglich den höheren Klassen vorbehalten, und
Begabtenförderungen gab es damals nicht.
Und auch Johannes Calvin
entstammte dem Bürgertum. Sein Vater war kirchlicher Notar und Richter des
Domkapitels Noyon. Und aufgrund der Herkunft seines Vaters nahm Calvin an dem
häuslichen Unterricht der Adelskinder teil. Wie Luther studierte Calvin die
sieben freien Künste, Jura und später Theologie an verschiedenen französischen
Universitäten.
Huldrych Zwingli stellt ebenfalls
keine Ausnahme dar. Sein Vater war oberster Dienstmann seines Lehnsherrn. Er
wurde an der Lateinschule in Basel und Bern unterrichtet. Später studierte er
Theologie in Wien und Basel.
Das sind die in Europa
bedeutenden Reformatoren. Doch auch die in den USA bedeutenden Reformatoren britischer
Abstammung wie John Wesley und George Fox stellen im Vergleich zu Hus, Luther,
Münzer, Calvin und Zwingli keine Ausnahme dar. Wesley, der Begründer des
Methodismus, entstammt einer Pfarrerdynastie und Fox, der Gründer der Quäker,
einem bürgerlichen Elternhaus. Fox‘ Vater war Wollhändler.
Insofern weisen Hus, Luther,
Münzer, Calvin, Zwingli, Wesley und Fox die Anfänge eines bürgerlichen
Bewusstseins auf, weil es ihrem gesellschaftlichen Stand entsprach. Schließlich
bestimmt das Sein das Bewusstsein.
Doch das sind nur Reformatoren.
Wichtig ist auch, wo sich im Heiligen Römischen Reich die Reformation vor dem
Dreißigjährigen Krieg vollzog. So etwa in Sachsen, wo sich die Reformation von
Wittenberg aus verbreitete, bis 1527 die evangelisch-lutherische Kirche in
Sachsen gegründet wurde. Sachsen und sein Kurfürst Friedrich der Weise wurden
reich durch die Silberminen im Erzgebirge. Da ist es nicht verwunderlich, dass
sich der Kurfürst schützend vor Luther stellte, schließlich drückte Friedrich
damit seine Abnabelung vom Kaiser aus.
Die Hansestadt Lübeck war ebenfalls
reich. Und von 1522 bis 1530 setzte sich auch hier die Reformation durch.
Genauso Hamburg, das ebenfalls reich war und seit 1529 reformiert ist. Aber
auch die Hansestadt Dortmund. Quellen aus dem Jahr 1296 sollen bereits den
ersten Bergmann unter den Dortmunder Bürgern belegen. Im Jahr 1572 setzte sich
dann die Reformation in Dortmund endgültig durch. Diese drei Hansestädte
Lübeck, Hamburg und Dortmund erfuhren großen Reichtum durch den Handel.
Insofern bedingte das beginnende Bürgertum die Reformation.
Und somit ist der Protestantismus
nicht nur ein theologisches Bekenntnis oder eine Geisteshaltung, sondern
genauso eine Befreiungsbewegung der frühen Neuzeit und des entstehenden
Bürgertums. Bereits während der Reformation zeigten sich Anfänge eines
entstehenden bürgerlichen Selbstbewusstseins, indem sich Bürgerkinder wie Hus,
Luther, Münzer, Calvin, Zwingli, Wesley und Fox der Theologie zuwandten und
diese mit ihren durchaus revolutionieren Ideen vereinten. Damit ist Webers
Aussage, wonach manche protestantische Gruppierungen den Kapitalismus
bestärkten und befeuerten, nicht gänzlich richtig. Genauso bedingte der frühe Kapitalismus
die Reformation. So erhofften sich die Reformer durchaus eine gewisse Befreiung
der Menschen. Diese Befreiung hatte verschiedene Schattierungen. Während Münzer
sich eine vollkommene irdische Befreiung der Bauern erhoffte, definierte Luther
die Freiheit im Glauben. Dagegen erklärte Calvin „ora et labora“ (bete und
arbeite) zu seinem Leitmotiv, obwohl dieser Ausspruch von den katholischen Benediktinermönchen
stammt. Damit definierte Calvin sein Verständnis von Freiheit, wonach der
Mensch auf Erden Gott dient und Werke zu Gottes Ehre verrichtet. Dadurch
erlangt der Mensch Freiheit, die sich im Jenseits abspielt. Calvins These kann
man mit den Worten „Arbeit macht frei“ zusammenfassen. Jedoch ist dieser
Ausspruch durch das Konzentrationslager Ausschwitz und den dort erfolgten
Verbrechen schwer belastet.
Außerdem macht Arbeit nicht
unbedingt frei. Dieser Ausspruch ist genauso falsch wie Angela Merkels
Ausspruch: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ Auch dieses Bonmot in seiner
unverwechselbar merkelschen Ausdrucksweise war bereits seit den
„Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von Karl Marx widerlegt. Laut Marx
beinhaltet Lohnarbeit Selbstentfremdung und kann somit nicht zur Freiheit oder
etwas Sozialem führen.
Trotzdem scheiterten manche
Befreiungsversuche der Reformatoren, während andere erfolgreich waren. Das lag
einerseits an der Uneinigkeit am Freiheitsverständnis der Reformatoren. So
hatten die reformatorischen Theologen oftmals keine einheitlich
wissenschaftliche Definition von Freiheit, weil sie trotz gleicher sozialer
Herkunft unterschiedlich geprägt wurden und verschiedene Absichten verfolgten.
Außerdem kamen manche Freiheitsbewegungen zu früh, während andere rechtzeitig waren.
So war Münzer zu früh und Luther dagegen rechtzeitig. Dennoch erbrachten die
Reformatoren ihren historischen Verdienst, indem sie die Menschen sowie die
restliche Weltlichkeit von der Kirche emanzipierten. Das schuf weitere
Freiheiten, damit der Kapitalismus weiter verbreiten konnte. Allerdings ist es
nicht verwunderlich, dass sich der Protestantismus in den oberen Klassen
herausbildete. Ein Anzeichen also für das Aufkeimen eines bürgerlichen
Bewusstseins. Denn damals gab es keine Laienbewegung und Gottesdienste wurden
nicht in den jeweiligen Landessprachen abgehalten, sondern in Latein.
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