Gestern hatte ich eine
Weiterbildung im Bereich Crossmedia-Journalismus. Dazu sollte ich in einer
kleinen Arbeitsgruppe bestehend aus zwei jungen Männern, einer jungen Frau mit
asiatischen Wurzeln und mir einen Videobeitrag in Form einer Dokumentation, einer
Reportage oder eines Porträts erstellen. Da dies recht schnell erfolgen sollte,
begnügte sich die Gruppe mit einem Bericht über ein Notaufnahmelager für
Flüchtlinge. Dieses hochaktuelle Thema schlug einer der beiden jungen Männer
vor. Ich selbst fand die Idee nicht schlecht, obwohl es mittlerweile sehr stark
ausgelutscht ist. Jedoch konnten sich die beiden anderen Gruppenmitglieder
damit nicht wirklich anfreunden. Sowohl die junge Deutsche mit asiatischen
Wurzeln als auch der andere junge Mann weigerten sich ausdrücklich, ein
Interview mit den Flüchtlingen zu führen.
Besonders stark verwunderte mich
dabei die ablehnende Haltung der jungen Frau. Da ihre Eltern aus der Republik
China, besser bekannt als Taiwan, stammen, besitzt sie neben der deutschen
Staatsangehörigkeit auch illegalerweise die chinesische. Jedenfalls wurde sie in
Hamburg geboren und wuchs im Stadtteil Poppenbüttel auf. Dieser Hamburger
Stadtteil ist weder sozial schwach, noch sonderlich herausragend. Man könnte
also behaupten, dass der durchschnittliche Hamburger in Poppenbüttel wohnt. Beider letzten Bürgerschaftswahl erreichte die SPD in diesem Stadtteil beeindruckende 48,5 Prozent und baute damit das Ergebnis von 2011 noch aus. Man
müsste meinen, dass dort also moderate Menschen wohnen. Natürlich steht nicht
immer ein Mensch exemplarisch für eine Gruppe. Trotzdem ist es verwunderlich,
dass diese Frau trotz gesellschaftlicher Prägung durch ihre eigene Herkunft
sowie durch das soziale Umfeld Flüchtlingen so ablehnend gegenübersteht.
Obwohl ihre Eltern
höchstwahrscheinlich selbst nicht als Flüchtlinge aus Taiwan nach Hamburg
gekommen sind, ist der Mangel an Solidarität mit den Flüchtlingen seltsam.
Während der Französischen Revolution 1789 hieß es: „Freiheit! Gleichheit!
Brüderlichkeit!“ Im Zuge der ersten Welle der Frauenbewegung nach der
Französischen Revolution wandelte sich die Forderung dahingehend, dass aus
Brüderlichkeit Solidarität wurde. Das ist nicht weiter schlimm. Die
Arbeiterbewegung griff die Begrifflichkeit der Solidarität als grundlegendes
Element auf. Seitdem schwingt ein zwangsläufiger Automatismus bei der Solidarität
mit. Schließlich sind wir alles Ausgebeutete, solange wir unsere Arbeitskraft
verkaufen müssen. So zumindest erkannte es der fiktive Hausmeister an der Pariser-Vorstadt-Universität
Nanterre im Roman „Hinter Glas“ vom französischen Literaturprofessors Robert
Merle. Gleichzeitig mokierte sich der Hausmeister damit über die kleinbürgerliche
68er-Bewegung der damaligen Zeit. In seinen darauffolgenden Worten drückte der
Hausmeister Sympathien für einen verarmten Adligen aus. Auch Franz Mehring ließ
sich in „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ über Widerwärtigkeit des Bürgertums
aus, während seine Kritik am Adel geradezu verhalten war. Doch mit der Solidarität
ist es vielmehr so, dass sie eines gemeinsamen Passagerituals nach Arnold van
Gennep und Victor Turners bedarf, um gemeinsame Werte zu zementieren.
Dass anderen Nationen und
Kulturen nationalistische, chauvinistische oder gar faschistoide
Geisteshaltungen nicht fremd sind, ist hinlänglich bekannt und ausreichend belegt.
Doch galt es bislang als nicht ausgemacht, dass selbst deutsche Mitbürger mit
Migrationshintergrund der kleinbürgerlichen Gesinnung des Nationalismus‘ oder
Chauvinismus‘ der sogenannten Dominanzgesellschaft erlegen sind. So etwas wurde
bislang nur in Frankreich ausgemacht. Im französischen Marseille wählten 2014 „selbst Einwanderer aus den heruntergekommenen Satellitenstädten“ den Front National.
Doch in Deutschland? So etwas wurde bislang als unwahrscheinlich angesehen.
Mitbürger mit Migrationshintergrund rechnete man in der Bundesrepublik eher dem
sozialdemokratischen Lager zu, obwohl sie eher die bürgerlichen Ideale der
Unionsparteien oder der FDP teilten. Von der SPD fühlten sich diese Mitmenschen
nur eher angesprochen, weil sie nicht so miefig wie die Union oder FDP daherkam.
Doch CDU, CSU oder FDP standen und stehen nicht für Solidarität. Das ist auch
den migrantischen Menschen bekannt.
Insofern erklärt es sich, dass
der Solidaritätsgedanke bei den Mitmenschen mit Migrationshintergrund nicht
sonderlich ausgeprägt ist. Zwar steht nicht zu befürchten, dass diese
Mitmenschen NPD, AfD oder ähnliches wählen, doch zeugt es von der
Zersplitterung der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Dieser Sachverhalt
belegt auch den bis heute anhaltenden Erfolg des bundesdeutschen Systems: Die Bundesrepublik
ist noch immer relativ stark integrativ und korrumpiert ihre Staatsbürger zu
Kleinbürgern. Der soziale Stand der Kleinbürger ist sozialökonomisch nicht
sonderlich stark, doch reicht es zu Abstiegsängsten in diesen Kreisen. Daraus
resultiert unter anderem die Widerwertigkeit der Kleinbürger, weil sie sich
auch mehrheitlich als etwas Besseres ansehen. Und diese Geisteshaltung teilt
scheinbar auch die junge Frau mit chinesischen Wurzeln. Das lustige dabei ist,
dass sie damit dem Stereotyp asiatischer Mitmenschen entspricht. Asiaten sollen
sich angeblich bis zur Selbstverleumdung aufgeben. Man könnte auch sagen, dass
sie sich bis zur Selbstaufgabe verleumden. Doch das macht keinen Unterschied. Solch
ein Missstand ist ein guter Nährboden für Kleinbürger, Nationalismus,
Chauvinismus sowie ähnliches und befeuert diesen.
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