Dienstag, 10. März 2015

Solidarität und ihre tatsächliche Ausprägung



Gestern hatte ich eine Weiterbildung im Bereich Crossmedia-Journalismus. Dazu sollte ich in einer kleinen Arbeitsgruppe bestehend aus zwei jungen Männern, einer jungen Frau mit asiatischen Wurzeln und mir einen Videobeitrag in Form einer Dokumentation, einer Reportage oder eines Porträts erstellen. Da dies recht schnell erfolgen sollte, begnügte sich die Gruppe mit einem Bericht über ein Notaufnahmelager für Flüchtlinge. Dieses hochaktuelle Thema schlug einer der beiden jungen Männer vor. Ich selbst fand die Idee nicht schlecht, obwohl es mittlerweile sehr stark ausgelutscht ist. Jedoch konnten sich die beiden anderen Gruppenmitglieder damit nicht wirklich anfreunden. Sowohl die junge Deutsche mit asiatischen Wurzeln als auch der andere junge Mann weigerten sich ausdrücklich, ein Interview mit den Flüchtlingen zu führen.

Besonders stark verwunderte mich dabei die ablehnende Haltung der jungen Frau. Da ihre Eltern aus der Republik China, besser bekannt als Taiwan, stammen, besitzt sie neben der deutschen Staatsangehörigkeit auch illegalerweise die chinesische. Jedenfalls wurde sie in Hamburg geboren und wuchs im Stadtteil Poppenbüttel auf. Dieser Hamburger Stadtteil ist weder sozial schwach, noch sonderlich herausragend. Man könnte also behaupten, dass der durchschnittliche Hamburger in Poppenbüttel wohnt. Beider letzten Bürgerschaftswahl erreichte die SPD in diesem Stadtteil beeindruckende 48,5 Prozent und baute damit das Ergebnis von 2011 noch aus. Man müsste meinen, dass dort also moderate Menschen wohnen. Natürlich steht nicht immer ein Mensch exemplarisch für eine Gruppe. Trotzdem ist es verwunderlich, dass diese Frau trotz gesellschaftlicher Prägung durch ihre eigene Herkunft sowie durch das soziale Umfeld Flüchtlingen so ablehnend gegenübersteht.

Obwohl ihre Eltern höchstwahrscheinlich selbst nicht als Flüchtlinge aus Taiwan nach Hamburg gekommen sind, ist der Mangel an Solidarität mit den Flüchtlingen seltsam. Während der Französischen Revolution 1789 hieß es: „Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!“ Im Zuge der ersten Welle der Frauenbewegung nach der Französischen Revolution wandelte sich die Forderung dahingehend, dass aus Brüderlichkeit Solidarität wurde. Das ist nicht weiter schlimm. Die Arbeiterbewegung griff die Begrifflichkeit der Solidarität als grundlegendes Element auf. Seitdem schwingt ein zwangsläufiger Automatismus bei der Solidarität mit. Schließlich sind wir alles Ausgebeutete, solange wir unsere Arbeitskraft verkaufen müssen. So zumindest erkannte es der fiktive Hausmeister an der Pariser-Vorstadt-Universität Nanterre im Roman „Hinter Glas“ vom französischen Literaturprofessors Robert Merle. Gleichzeitig mokierte sich der Hausmeister damit über die kleinbürgerliche 68er-Bewegung der damaligen Zeit. In seinen darauffolgenden Worten drückte der Hausmeister Sympathien für einen verarmten Adligen aus. Auch Franz Mehring ließ sich in „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ über Widerwärtigkeit des Bürgertums aus, während seine Kritik am Adel geradezu verhalten war. Doch mit der Solidarität ist es vielmehr so, dass sie eines gemeinsamen Passagerituals nach Arnold van Gennep und Victor Turners bedarf, um gemeinsame Werte zu zementieren.

Dass anderen Nationen und Kulturen nationalistische, chauvinistische oder gar faschistoide Geisteshaltungen nicht fremd sind, ist hinlänglich bekannt und ausreichend belegt. Doch galt es bislang als nicht ausgemacht, dass selbst deutsche Mitbürger mit Migrationshintergrund der kleinbürgerlichen Gesinnung des Nationalismus‘ oder Chauvinismus‘ der sogenannten Dominanzgesellschaft erlegen sind. So etwas wurde bislang nur in Frankreich ausgemacht. Im französischen Marseille wählten 2014 „selbst Einwanderer aus den heruntergekommenen Satellitenstädten“ den Front National. Doch in Deutschland? So etwas wurde bislang als unwahrscheinlich angesehen. Mitbürger mit Migrationshintergrund rechnete man in der Bundesrepublik eher dem sozialdemokratischen Lager zu, obwohl sie eher die bürgerlichen Ideale der Unionsparteien oder der FDP teilten. Von der SPD fühlten sich diese Mitmenschen nur eher angesprochen, weil sie nicht so miefig wie die Union oder FDP daherkam. Doch CDU, CSU oder FDP standen und stehen nicht für Solidarität. Das ist auch den migrantischen Menschen bekannt.

Insofern erklärt es sich, dass der Solidaritätsgedanke bei den Mitmenschen mit Migrationshintergrund nicht sonderlich ausgeprägt ist. Zwar steht nicht zu befürchten, dass diese Mitmenschen NPD, AfD oder ähnliches wählen, doch zeugt es von der Zersplitterung der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Dieser Sachverhalt belegt auch den bis heute anhaltenden Erfolg des bundesdeutschen Systems: Die Bundesrepublik ist noch immer relativ stark integrativ und korrumpiert ihre Staatsbürger zu Kleinbürgern. Der soziale Stand der Kleinbürger ist sozialökonomisch nicht sonderlich stark, doch reicht es zu Abstiegsängsten in diesen Kreisen. Daraus resultiert unter anderem die Widerwertigkeit der Kleinbürger, weil sie sich auch mehrheitlich als etwas Besseres ansehen. Und diese Geisteshaltung teilt scheinbar auch die junge Frau mit chinesischen Wurzeln. Das lustige dabei ist, dass sie damit dem Stereotyp asiatischer Mitmenschen entspricht. Asiaten sollen sich angeblich bis zur Selbstverleumdung aufgeben. Man könnte auch sagen, dass sie sich bis zur Selbstaufgabe verleumden. Doch das macht keinen Unterschied. Solch ein Missstand ist ein guter Nährboden für Kleinbürger, Nationalismus, Chauvinismus sowie ähnliches und befeuert diesen.

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