Helmut Schmidt prägte einmal den
Ausdruck: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!“ Und hat man dann eine, ist
es auch nicht richtig, weil sie zu viele Kritikpunkte in sich bergen. So war es
auch am heutigen Donnerstag, dem 18. Juni 2015, als Christian Siefkes vom
Keimforum seine Utopie vom Kommunismus in der Stadtbücherei Münster vorstellte.
Organisiert wurde die Veranstaltung vom ver.di-Erwerbslosenausschuss Münsterland
und trug den Namen „Commonsbasierte Peer-Produktion“. Komischer Name!
Vielleicht ist es ein Versuch, die kommunistische Ideologie nach dem
Bedeutungsverlust infolge des Untergangs der Sowjetunion 1991 einen neuen,
attraktiveren Anstrich zu verpacken. Vielleicht liegt es auch daran, dass Christian
Siefkes freischaffender Programmierer ist. Das erklärte die Herkunft der
Begrifflichkeiten aus der Computer-Welt auch besser. Siefkes, ein geradezu
klischeehafter Informatiker, begann auf introvertierte, zittrige, piepsige
Weise seinen Vortrag und lieferte mit Steilvorlagen Systemkritik. Demnach sei
der Kapitalismus borniert, destruktiv, schaffe Arbeitslosigkeit und mache Arbeit
zugleich. Darin lag bereits der erste Knackpunkt. So können höchsten
Kapitalisten borniert sein, doch niemals ein Wirtschaftssystem. Obwohl er in
seiner allgemeinen Kritik durchaus recht hat, waren seine Ausführungen
schwammig und wenig griffig, sondern eher Stückwerk.
Im Anschluss stellte er seine
durchaus reizvolle Utopie von gegenseitigem Respekt, Menschlichkeit und
Tauschbeziehungen vor. Eine schöne, heile Welt. Trotzdem verfranzte er sich
dabei in Einzelbeispielen. So gebe es bereits kleine Kommunen in der
landwirtschaftlichen Produktion sowie kleine Wohngesellschaften. Das alles
mutete sehr esoterisch und hippiemäßig, jedoch zu wenig allgemeingültig oder weltweit
übertragbar an. In seinem gesamten Referat schien er außerdem, die beiden
Begriffe von Ökologie und Ökonomie ständig zu verwechseln.
Danach erfolgte eine lebendige
Diskussionen, der er gnadenlos unterlag, obwohl er sich wandte und wandte. So
begriff er nicht den dialektischen Materialismus, indem er die Welt als Einheit
verstand und widerstrebende Polen zu vereinen suchte. Schließlich erfolgen komplette
Systemwechsel nicht von jetzt auf gleich. Und obwohl er scheinbar irgendwie demokratische
Elemente in seiner Utopie beibehalten wollte, konnte er den Übergang in sein
Wunderland nicht erklären. Revolution, Umerziehung oder demokratische Wahlen? „Ich
weiß nicht!“ Und somit scheiterte er auch am Gesetz vom Umschlagen von einer
Quantität in eine neue Qualität, indem er die Mehrheitsverhältnisse in unserer
Gesellschaft verkannte.
So bekräftigte Siefkes die
Notwendigkeit eines Wirtschaftssystemwandels aus ökonomischen, ökologischen und
demokratischen Gesichtspunkten. Doch die Wirklichkeit in der heutigen Gesellschaft
schaut anders aus.
1. Ökonomie:
Siefkes einzigen zwei Kriterien
seiner neuen, schönen Welt waren die Abschaffung des Geldes und des Berufszwangs.
Doch verstand er den Sinn des Geldes als Tauschäquivalent überhaupt nicht. Mit
der Erfindung des Geldes wurden nach Marcel Mauss Beziehungen aufgebrochen, wodurch
man mit Menschen nichts mehr zu tun hatte, obwohl es dennoch eine Beziehung
gab. Und obwohl sich das Geld von der Warendeckung abgekoppelt hat, wie es
Joseph Vogl wortreich darlegte, sorgte die Abschaffung des Geldes nicht für ein
Ende des Kapitals. Denn schaffte man das Geld ab, so entstünde eine neue Form
des Tauschäquivalents. Und der Kapitalismus bestünde fort. Schließlich zieht
sich der Kapitalismus bislang immer wieder aufs Neue am eigenen Schopf aus dem
Sumpf. Das sieht man ganz deutlich an der Finanzwirtschaft. So werden an jeden
Menschen leichtfertig Kredite vergeben. Schließlich verdienen die Banken
dadurch. Entweder durch dessen Rückzahlung oder aber durch einen Bürgen oder
aber durch Kreditausfallversicherungen. Dadurch verdienen Banken oftmals
doppelt.
Gleichzeitig verneinte Siefkes ein
zukünftiges Wirtschaftswachstum. Allerdings gibt es noch so viele Länder, deren
Bevölkerungen von der Versorgung abgeschnitten sind. Und das sind die
Schwellen- und Entwicklungsländer. Deren Einwohner besitzen nicht so viele Nahrungsmittel,
Kleidungsstücke, Autos, Fernseher und andere Konsumgüter wie westliche Bürger.
Somit sind Länder wie Brasilien, China, Indien, Südafrika und viele andere
riesige Wachstumsmärkte. Schließlich bedürfen diese Länder ebenfalls einer
Industrialisierung. Denn die Industrialisierung bringt auch weitere
gesellschaftliche Erkenntnisse mit sich. Demnach bestimmt das Sein das
Bewusstsein. Diese Mitmenschen der notwendigen Entwicklung auszuschließen, ist
schlichtweg unmenschlich. Doch das war nur ein Punkt seiner Utopie, die einer
Kritik ausgesetzt waren.
Damit Siefkes‘ zukünftiges
Wirtschaftswunderland auch funktioniert, solle ein Pool an gemeinsamen
Fähigkeiten und Interessen eingerichtet werden. Aus diesem entschiede sich, wer
welche Aufgabe übernehme. Doch diese Idee offenbarte Siefkes‘
Demokratiedefizit. Auf der einen Seite sollten die, die sich als erstes
meldeten, das Zugriffsrecht auf die gewünschte Tätigkeit erhalten. Das sorgte
für eine Gerontokratie, wonach die Alten auf ihren Stühlen klebten und
Besitzstandswahrer wären. Gleichzeitig sorgte diese Idee für einen
Zusammenbruch des bisherigen Versorgungssystems. Denn wer würde noch Kranke
oder Alten pflegen oder Spargel ernten, wenn die Chance bestünde, der neue Filmstar
zu werden? In den USA sieht man das schon heute, wo fast jeder US-Bürger sich
als verkannter Star geriert. Doch Siefkes negiert nötigen Druck sowie Anreize
und glaubt, dass es schon irgendwie wird. Damit verneint er die erwiesene Eigennützigkeit
des Menschen und drückte das gute Gelingen seines Wunderlandes aus. Doch mit
solch einem Glaubensansatz wird die zukünftige Wirtschaft auch nicht sicherer,
solange die Planbarkeit der Wirtschaft nicht erzielt wird. Und die Planbarkeit
der Wirtschaft erfordert Anreize und manchmal auch etwas Druck.
Trotzdem bringt Siefkes das
Mantra des Kapitalismus auf seine eigene Art und Weise zum Ausdruck, indem er
aussagt Siefkes: „Der Vorteil des einen, ist der Vorteil des anderen!“ Der Kapitalist
würde stattdessen sagen: „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden
gedacht!“ Insofern unterscheiden sich beide Aussagen nicht sonderlich
voneinander. Die unsichtbare Hand oder Siefkes‘ positives Menschenbild werden
es schon richten. Und solche Glaubensansätze haben sich historisch spätestens seit
der Abschaffung des Bretton-Woods-Abkommen im Jahr 1971 widerlegt. Mit der
Aufkündigung des Abkommens wurde die Wirtschaftskraft eines Landes in die
Zukunft projiziert. Seit 1971 sagten sich die Wirtschaftslenker: „Es wird schon
irgendwie funktionieren, ansonsten haben spätere Generationen das Problem!“
Aber auch Siefkes‘ Argument,
wonach der Mensch ja nicht mehr als nötig essen könne, verfing nicht. Denn in
der wirklichen Welt gibt es adipöse Menschen, die seine These anschaulich
widerlegten.
Und entgegen Siefkes‘ Annahme glauben
die Menschen scheinbar an das bestehende Wirtschaftssystem, weil sie für dessen
Reformbedürftigkeit noch nicht mehrheitlich auf die Straßen gehen. Eine
Notwendigkeit zum Wandel, wie Siefkes sie propagiert, existiert also bislang
nicht. Und seine Aussagen beinhalten zwar eine Umverteilung, doch erinnert das
eher an bürgerliche Revolutionen in Europa als an die Erlangung einer neuen
Qualität. Schließlich spielt die zwingend erforderliche Planbarkeit der
Wirtschaft bei Siefkes keine Rolle.
2. Ökologie:
Laut Siefkes seien die
natürlichen Ressourcen endlich sowie erschöpflich und die Umweltverschmutzung
bereits eingetreten. Nun gut, der schottische Philosoph David Hume sagte
einmal: „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher auch in den Sinnen war.“ Wer
könnte also demnach eine Endlichkeit vorhersagen? Und tatsächlich wurden die Thesen des Club of Rome laut Ottmar Edenhofer, dem Chefvolkswirt des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, bereits „als Irrtum herausgestellt“. So
wird noch immer Erdöl gefördert, weil das globale Erdölfördermaximum durch neue
Techniken immer weiter in die Zukunft hinausgeschoben wurde.
Damit ist auch Siefkes‘ These der
ökologischen Umkehr widerlegt. Schließlich nimmt die Umweltverschmutzung in der
Bundesrepublik stetig ab. Und eine Abnahme der Verschmutzung treibt auch keinen
Menschen auf die Straße. Also keine Notwendigkeit der ökologischen Umkehr.
3. Demokratie:
Siefkes‘ Thesen kranken aber auch
seinem defizitären Demokratieverständnis. Und mit seiner Unschlüssigkeit über
den Weg zum Kommunismus bekräftigt es nur. Revolution oder Demokratie? „Es wird
schon irgendwie werden!“, hilft keinem Menschen weiter. Ein klares Bekenntnis
zur Demokratie fehlte. Es bedarf nämlich eines gemeinschaftlichen,
mehrheitsfähigen Konsenses, wie es im dialektischen Materialismus beschrieben
ist.
Doch auch sein Pool aus
Fähigkeiten und Interessen für eine spätere Arbeitswelt offenbart demokratische
Defizite. Jedoch funktioniert eine Gesellschaft nicht, wo der zuerst mahlt, der
zuerst kommt. Wenn also neun von zehn Leuten ihrem Traumberuf nachgehen, bleibt
die Drecksarbeit auf undemokratische Weise bei der zehnten Person hängen. Der
dürfte dann in der landwirtschaftlichen Produktion, der Pflege und als Diener zugleich
tätig sein. Der Vorteil des einen, ist demnach nicht unbedingt der Vorteil des
anderen, wie Siefkes langatmig erklärte. Unliebsame Jobs werden auch im
Kommunismus nicht attraktiver, weswegen sich immer Menschen irgendeiner
leidigen Aufgabe widersetzen werden. Und damit Kranke auch weiterhin gepflegt
werden können, bedarf es jemanden, der die Drecksarbeit leistet. Zwang und Druck
oder Anreize sind also notwendig, weswegen sie auch ein zukünftiges
Wirtschaftssystem nicht ohne auskäme.
Daraufhin erwiderte Siefkes
lapidar mit dem Ausspruch der US-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgerin
Elinor Ostrom: „Nobody wants to be a sucker.“ [auf Deutsch: Niemand will das
Arschloch sein. eigene Übersetzung].
Doch auch wenn Siefkes mit Immanuel Kant entgegnet hätte, dass selbst Teufel zur
Errichtung einer Republik, einer vernünftigen Staatsform, fähig seien, widerlegte
Siefkes damit nicht sein Demokratiedefizit. Denn schließlich müssten sich auch Teufel
mehrheitlich und demokratisch auf eine Republik einigen.
Trotzdem hielt Siefkes seine
Ideen für mehrheitsfähig. Sicherlich sind manche Gedanken durchaus reizvoll,
doch mehrheitsfähig sind sie definitiv nicht. Seinem Vortrag folgten trotz
großer Werbung und Ankündigung lediglich 20 Teilnehmer.
Der Abend mit Christian Siefkes
endete um 22.00. Danach wurde der Lesesaal der Bibliothek aufgeräumt. Siefkes
stand dabei am Rand, bis ein Diskussionsteilnehmer um Mithilfe bat: „Nobody
wants to be a sucker. Now it’s
your turn.“ Daraufhin bemüßigte sich Siefkes auch Stühle zu schleppen.
Für sein Referat erhielt er 150,00 € ohne Fahrt- und Übernachtungskosten. Ein
Utopist, der an seiner eigenen Utopie scheiterte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen