Freitag, 19. Juni 2015

Visionen und Utopien



Helmut Schmidt prägte einmal den Ausdruck: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!“ Und hat man dann eine, ist es auch nicht richtig, weil sie zu viele Kritikpunkte in sich bergen. So war es auch am heutigen Donnerstag, dem 18. Juni 2015, als Christian Siefkes vom Keimforum seine Utopie vom Kommunismus in der Stadtbücherei Münster vorstellte. Organisiert wurde die Veranstaltung vom ver.di-Erwerbslosenausschuss Münsterland und trug den Namen „Commonsbasierte Peer-Produktion“. Komischer Name! Vielleicht ist es ein Versuch, die kommunistische Ideologie nach dem Bedeutungsverlust infolge des Untergangs der Sowjetunion 1991 einen neuen, attraktiveren Anstrich zu verpacken. Vielleicht liegt es auch daran, dass Christian Siefkes freischaffender Programmierer ist. Das erklärte die Herkunft der Begrifflichkeiten aus der Computer-Welt auch besser. Siefkes, ein geradezu klischeehafter Informatiker, begann auf introvertierte, zittrige, piepsige Weise seinen Vortrag und lieferte mit Steilvorlagen Systemkritik. Demnach sei der Kapitalismus borniert, destruktiv, schaffe Arbeitslosigkeit und mache Arbeit zugleich. Darin lag bereits der erste Knackpunkt. So können höchsten Kapitalisten borniert sein, doch niemals ein Wirtschaftssystem. Obwohl er in seiner allgemeinen Kritik durchaus recht hat, waren seine Ausführungen schwammig und wenig griffig, sondern eher Stückwerk.

Im Anschluss stellte er seine durchaus reizvolle Utopie von gegenseitigem Respekt, Menschlichkeit und Tauschbeziehungen vor. Eine schöne, heile Welt. Trotzdem verfranzte er sich dabei in Einzelbeispielen. So gebe es bereits kleine Kommunen in der landwirtschaftlichen Produktion sowie kleine Wohngesellschaften. Das alles mutete sehr esoterisch und hippiemäßig, jedoch zu wenig allgemeingültig oder weltweit übertragbar an. In seinem gesamten Referat schien er außerdem, die beiden Begriffe von Ökologie und Ökonomie ständig zu verwechseln.

Danach erfolgte eine lebendige Diskussionen, der er gnadenlos unterlag, obwohl er sich wandte und wandte. So begriff er nicht den dialektischen Materialismus, indem er die Welt als Einheit verstand und widerstrebende Polen zu vereinen suchte. Schließlich erfolgen komplette Systemwechsel nicht von jetzt auf gleich. Und obwohl er scheinbar irgendwie demokratische Elemente in seiner Utopie beibehalten wollte, konnte er den Übergang in sein Wunderland nicht erklären. Revolution, Umerziehung oder demokratische Wahlen? „Ich weiß nicht!“ Und somit scheiterte er auch am Gesetz vom Umschlagen von einer Quantität in eine neue Qualität, indem er die Mehrheitsverhältnisse in unserer Gesellschaft verkannte.

So bekräftigte Siefkes die Notwendigkeit eines Wirtschaftssystemwandels aus ökonomischen, ökologischen und demokratischen Gesichtspunkten. Doch die Wirklichkeit in der heutigen Gesellschaft schaut anders aus.

1. Ökonomie:

Siefkes einzigen zwei Kriterien seiner neuen, schönen Welt waren die Abschaffung des Geldes und des Berufszwangs. Doch verstand er den Sinn des Geldes als Tauschäquivalent überhaupt nicht. Mit der Erfindung des Geldes wurden nach Marcel Mauss Beziehungen aufgebrochen, wodurch man mit Menschen nichts mehr zu tun hatte, obwohl es dennoch eine Beziehung gab. Und obwohl sich das Geld von der Warendeckung abgekoppelt hat, wie es Joseph Vogl wortreich darlegte, sorgte die Abschaffung des Geldes nicht für ein Ende des Kapitals. Denn schaffte man das Geld ab, so entstünde eine neue Form des Tauschäquivalents. Und der Kapitalismus bestünde fort. Schließlich zieht sich der Kapitalismus bislang immer wieder aufs Neue am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Das sieht man ganz deutlich an der Finanzwirtschaft. So werden an jeden Menschen leichtfertig Kredite vergeben. Schließlich verdienen die Banken dadurch. Entweder durch dessen Rückzahlung oder aber durch einen Bürgen oder aber durch Kreditausfallversicherungen. Dadurch verdienen Banken oftmals doppelt.

Gleichzeitig verneinte Siefkes ein zukünftiges Wirtschaftswachstum. Allerdings gibt es noch so viele Länder, deren Bevölkerungen von der Versorgung abgeschnitten sind. Und das sind die Schwellen- und Entwicklungsländer. Deren Einwohner besitzen nicht so viele Nahrungsmittel, Kleidungsstücke, Autos, Fernseher und andere Konsumgüter wie westliche Bürger. Somit sind Länder wie Brasilien, China, Indien, Südafrika und viele andere riesige Wachstumsmärkte. Schließlich bedürfen diese Länder ebenfalls einer Industrialisierung. Denn die Industrialisierung bringt auch weitere gesellschaftliche Erkenntnisse mit sich. Demnach bestimmt das Sein das Bewusstsein. Diese Mitmenschen der notwendigen Entwicklung auszuschließen, ist schlichtweg unmenschlich. Doch das war nur ein Punkt seiner Utopie, die einer Kritik ausgesetzt waren.

Damit Siefkes‘ zukünftiges Wirtschaftswunderland auch funktioniert, solle ein Pool an gemeinsamen Fähigkeiten und Interessen eingerichtet werden. Aus diesem entschiede sich, wer welche Aufgabe übernehme. Doch diese Idee offenbarte Siefkes‘ Demokratiedefizit. Auf der einen Seite sollten die, die sich als erstes meldeten, das Zugriffsrecht auf die gewünschte Tätigkeit erhalten. Das sorgte für eine Gerontokratie, wonach die Alten auf ihren Stühlen klebten und Besitzstandswahrer wären. Gleichzeitig sorgte diese Idee für einen Zusammenbruch des bisherigen Versorgungssystems. Denn wer würde noch Kranke oder Alten pflegen oder Spargel ernten, wenn die Chance bestünde, der neue Filmstar zu werden? In den USA sieht man das schon heute, wo fast jeder US-Bürger sich als verkannter Star geriert. Doch Siefkes negiert nötigen Druck sowie Anreize und glaubt, dass es schon irgendwie wird. Damit verneint er die erwiesene Eigennützigkeit des Menschen und drückte das gute Gelingen seines Wunderlandes aus. Doch mit solch einem Glaubensansatz wird die zukünftige Wirtschaft auch nicht sicherer, solange die Planbarkeit der Wirtschaft nicht erzielt wird. Und die Planbarkeit der Wirtschaft erfordert Anreize und manchmal auch etwas Druck.

Trotzdem bringt Siefkes das Mantra des Kapitalismus auf seine eigene Art und Weise zum Ausdruck, indem er aussagt Siefkes: „Der Vorteil des einen, ist der Vorteil des anderen!“ Der Kapitalist würde stattdessen sagen: „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht!“ Insofern unterscheiden sich beide Aussagen nicht sonderlich voneinander. Die unsichtbare Hand oder Siefkes‘ positives Menschenbild werden es schon richten. Und solche Glaubensansätze haben sich historisch spätestens seit der Abschaffung des Bretton-Woods-Abkommen im Jahr 1971 widerlegt. Mit der Aufkündigung des Abkommens wurde die Wirtschaftskraft eines Landes in die Zukunft projiziert. Seit 1971 sagten sich die Wirtschaftslenker: „Es wird schon irgendwie funktionieren, ansonsten haben spätere Generationen das Problem!“

Aber auch Siefkes‘ Argument, wonach der Mensch ja nicht mehr als nötig essen könne, verfing nicht. Denn in der wirklichen Welt gibt es adipöse Menschen, die seine These anschaulich widerlegten.

Und entgegen Siefkes‘ Annahme glauben die Menschen scheinbar an das bestehende Wirtschaftssystem, weil sie für dessen Reformbedürftigkeit noch nicht mehrheitlich auf die Straßen gehen. Eine Notwendigkeit zum Wandel, wie Siefkes sie propagiert, existiert also bislang nicht. Und seine Aussagen beinhalten zwar eine Umverteilung, doch erinnert das eher an bürgerliche Revolutionen in Europa als an die Erlangung einer neuen Qualität. Schließlich spielt die zwingend erforderliche Planbarkeit der Wirtschaft bei Siefkes keine Rolle.

2. Ökologie:

Laut Siefkes seien die natürlichen Ressourcen endlich sowie erschöpflich und die Umweltverschmutzung bereits eingetreten. Nun gut, der schottische Philosoph David Hume sagte einmal: „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher auch in den Sinnen war.“ Wer könnte also demnach eine Endlichkeit vorhersagen? Und tatsächlich wurden die Thesen des Club of Rome laut Ottmar Edenhofer, dem Chefvolkswirt des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung, bereits „als Irrtum herausgestellt“. So wird noch immer Erdöl gefördert, weil das globale Erdölfördermaximum durch neue Techniken immer weiter in die Zukunft hinausgeschoben wurde.

Damit ist auch Siefkes‘ These der ökologischen Umkehr widerlegt. Schließlich nimmt die Umweltverschmutzung in der Bundesrepublik stetig ab. Und eine Abnahme der Verschmutzung treibt auch keinen Menschen auf die Straße. Also keine Notwendigkeit der ökologischen Umkehr.

3. Demokratie:

Siefkes‘ Thesen kranken aber auch seinem defizitären Demokratieverständnis. Und mit seiner Unschlüssigkeit über den Weg zum Kommunismus bekräftigt es nur. Revolution oder Demokratie? „Es wird schon irgendwie werden!“, hilft keinem Menschen weiter. Ein klares Bekenntnis zur Demokratie fehlte. Es bedarf nämlich eines gemeinschaftlichen, mehrheitsfähigen Konsenses, wie es im dialektischen Materialismus beschrieben ist.

Doch auch sein Pool aus Fähigkeiten und Interessen für eine spätere Arbeitswelt offenbart demokratische Defizite. Jedoch funktioniert eine Gesellschaft nicht, wo der zuerst mahlt, der zuerst kommt. Wenn also neun von zehn Leuten ihrem Traumberuf nachgehen, bleibt die Drecksarbeit auf undemokratische Weise bei der zehnten Person hängen. Der dürfte dann in der landwirtschaftlichen Produktion, der Pflege und als Diener zugleich tätig sein. Der Vorteil des einen, ist demnach nicht unbedingt der Vorteil des anderen, wie Siefkes langatmig erklärte. Unliebsame Jobs werden auch im Kommunismus nicht attraktiver, weswegen sich immer Menschen irgendeiner leidigen Aufgabe widersetzen werden. Und damit Kranke auch weiterhin gepflegt werden können, bedarf es jemanden, der die Drecksarbeit leistet. Zwang und Druck oder Anreize sind also notwendig, weswegen sie auch ein zukünftiges Wirtschaftssystem nicht ohne auskäme.

Daraufhin erwiderte Siefkes lapidar mit dem Ausspruch der US-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom: „Nobody wants to be a sucker.“ [auf Deutsch: Niemand will das Arschloch sein. eigene Übersetzung]. Doch auch wenn Siefkes mit Immanuel Kant entgegnet hätte, dass selbst Teufel zur Errichtung einer Republik, einer vernünftigen Staatsform, fähig seien, widerlegte Siefkes damit nicht sein Demokratiedefizit. Denn schließlich müssten sich auch Teufel mehrheitlich und demokratisch auf eine Republik einigen.

Trotzdem hielt Siefkes seine Ideen für mehrheitsfähig. Sicherlich sind manche Gedanken durchaus reizvoll, doch mehrheitsfähig sind sie definitiv nicht. Seinem Vortrag folgten trotz großer Werbung und Ankündigung lediglich 20 Teilnehmer.

Der Abend mit Christian Siefkes endete um 22.00. Danach wurde der Lesesaal der Bibliothek aufgeräumt. Siefkes stand dabei am Rand, bis ein Diskussionsteilnehmer um Mithilfe bat: „Nobody wants to be a sucker. Now it’s your turn.“ Daraufhin bemüßigte sich Siefkes auch Stühle zu schleppen. Für sein Referat erhielt er 150,00 € ohne Fahrt- und Übernachtungskosten. Ein Utopist, der an seiner eigenen Utopie scheiterte.

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