Montag, 3. November 2014

Der Anarchist im Schloss Bellevue



Ja, da ist sie nun, die Aussage, die durch die Republik eilte und vielerorts für Empörung sorgte. Zwei Sätze bloß. Der erste Satz: „Menschen, die die DDR erlebt haben und in meinem Alter sind, die müssen sich schon ganz schön anstrengen, um dies zu akzeptieren.“ Und der zweite Satz: „Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können?“ Das waren relativ unbedachte Äußerungen seitens des Bundespräsidenten Joachim Gauck. Sie entspringen einem Menschen, der sich spätestens nach der Wende von 1989 gegen die DDR stellte. Doch solche Statements sind eines Bundespräsidenten nicht würdig, weil er zur Überparteilichkeit verpflichtet ist. Das stellten nach der Vorabmeldung am Samstag Politiker der Linken, SPD und Grünen einen Tag später fest. Somit traf Gauck nicht nur die Partei „Die Linke“ und ihre Anhänger, sondern auch gleich die Sozialdemokraten und Grünen. Schließlich wollten all diese Parteien eine Koalition auf Vertrauensbasis aufbauen.

Doch Gauck unterliegt allein schon mit seiner ersten Äußerung einem groben Gedankenfehler. Er unterstellt seinen ostdeutschen Altersgenossen die gleichen politischen Ansichten, wie er sie hat. In seiner zweiten Aussage liegt er auch falsch. Man kann die Linke jedes Mal auf’s Neue diskreditieren, indem man ihr die Gretchenfrage stellt: „Wie hältst Du es mit der Demokratie? Wie hältst Du es mit der Bundesrepublik? Wie hältst Du es mit den bürgerlichen Freiheitsrechten?“ Und immer wieder kochen diese Fragen medial und in der Bevölkerung hoch, obwohl sich die Linke mehrheitlich zum bundesrepublikanischen System sowie zur Demokratie mit ihren Freiheitsrechten bekennt. Es ist eine Neuauflage der Rote-Socken-Kampagne. Doch stellte der ehemalige anhaltinische Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) im Jahr 1994 der damaligen PDS eine derartige Frage, als es um Stimmen der PDS für seine Minderheitsregierung ging? Stellte der designierte Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Harald Ringstorff (SPD) im Jahr 1998 ebenfalls der PDS bei den Koalitionsverhandlungen diese Frage? Oder der Berliner Klaus Wowereit (SPD) 2001 und 2002? Oder die Brandenburger Matthias Platzeck 2009 und Dietmar Woidke (beide SPD) 2014? Bei diesen Regierungsbeteiligungen der PDS und späteren Linken zeichnete sich nie eine Form der Unterdrückung wie in der DDR ab. Die Linke hat sich bisher in ihrer parlamentarischen und Regierungsarbeit bewiesen.

Doch man kann die zwei Sätze des Bundespräsidenten auch zu sehr aufbauschen. Man sollte sich doch lieber das ganze Interview beim „Bericht aus Berlin“ anschauen. Und dann stellt man fest, wie sehr Gauck in der Vergangenheit verhaftet ist. Immer ging es um die DDR und die Wende. Es gab wenige Äußerungen zur Gegenwart und Zukunft. Abgesehen von den zwei Sätzen über die Linke. Und so muss man sich fragen, ob mit Joachim Gauck unsere Demokratie in ihr letztes Stadium eingetreten ist.

Gauck wirbt zwar für mehr politisches Engagement, doch einen wirklichen Grund vermag er dafür nicht zu benennen. So erscheint es, als ob die Demokratie ein göttliches Allheilmittel wäre und eine bloße Abstimmung schon den Segen bringt. Freilich kann er aufgrund seiner politischen Neutralität nicht für politische Inhalte werben. Allerdings kann er eine Spanne an Entscheidungsmöglichkeiten aufzählen. Doch mit diesem schlechten Werben für mehr Bürgerbeteiligung wälzt er die staatliche Verantwortung auf das einzelne Individuum ab. In der Hoffnung, dass humanistische, idealistische oder vergleichbare Einsichten und Erkenntnisse obsiegen. Doch Vernunftmenschen sind eben nur Gutmenschen. Anhand von Gaucks Äußerungen erkennt man die Demokratie nur noch als bloßen Selbstzweck für Politiker. Wählen, damit jemand an der Spitze steht.

Mit dieser ideenlosen Politik, dem Werben für mehr Engagement und dem Hoffen auf höhere Erkenntnisse wirkt Gauck gleichwohl unherrschaftlich. Das mag in seiner Biographie begründet liegen. Doch Politik beinhaltet auch Herrschaft und Macht. Die Entmündigung des Staates und die Ermächtigung des Bürgers, wie sie Gauck propagiert, sind demnach Anarchie im wahrsten Sinne des Wortes.

Die erste Halbzeit von Gaucks erster Präsidentschaft ist mittlerweile vorbei. Viele andere ehemalige Bundespräsidenten fielen durch Bejahung der Gegenwart und Zukunft auf. Richard von Weiszäcker nahm teilweise den Deutschen ihre historische Schuld und schuf damit Zuversicht für die Zukunft. Roman Herzog sprach vom Ruck, der durch Deutschland gehen solle. Und Christian Wulff vom Islam, der mittlerweile natürlicher Bestandteil unserer deutschen Kultur ist. Doch was bleibt von Gauck? Mal abwarten, doch mit Sprüchen über die Linke schmeichelt er sich nicht in die Herzen der Bürger und verschafft sich einen Eintrag im Geschichtsbuch. Dazu bedarf es mehr als die gauck‘sche Anarchie.

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