Wissen Sie, wie viele Worte der
deutsche Wikipedia-Artikel zur deutschen Fußballnationalmannschaft umfasst?
Nein, weshalb auch. Ich verbringe ja auch nicht die Zeit damit, irgendwelche
Artikel auf die Anzahl seiner Worte zu prüfen! Jedenfalls sind es exakt 25 700
Worte (Stand: 18. Mai 2014, 22:50). Einschließlich all seiner 93 Fußnoten.
Wie viele Worte sind es beim
Wikipedia-Artikel über unseren Staat, die Bundesrepublik Deutschland? Es sind
27 084 Worte mit all seinen 180 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 22.55).
Und nun der Wikipedia-Artikel
über unseren Planeten? Es sind 5397 Worte mit allen 17 Fußnoten (Stand: 18. Mai
2014, 22.58).
Merken Sie etwas? Ja? Und zwar,
dass die Kulturleistungen größere Beachtung finden? Der Eindruck mag sich
aufzwingen. Doch vergleichen wir das nun mit historischen Persönlichkeiten, die
sich um die Menschheit, zumindest in der deutschen Geschichte, verdient gemacht
haben.
Beginnen wir mit Jesus Christus,
dem Begründer einer ganzen Weltreligion und vielleicht auch Stifter von damals
neuen Werten. 8692 Worte für einen Artikel mit 32 Fußnoten (Stand: 18. Mai
2014, 23.02). Okay, Jesus liegt auch 2000 Jahre zurück. Wissenschaftliche
Erkenntnisse über ihn sind schwierig, weil über die Jahre viel verschwunden,
eingestaubt, vernichtet und sonst wie nicht definitiv nachweisbar sind.
Setzen wir fort mit Martin Luther, von dem manche behaupten, er hätte die Neuzeit eingeläutet: 12 452 Worte
mit insgesamt 82 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 23. 07). Ja, da muss man
vielleicht eingestehen, dass Luther nicht die Katholiken, Juden, Muslime und viele
andere Religionsangehörige betrifft. Aber trotzdem haben auch sie durch den von
Luther eingeleiteten Geisteswandel in Europa profitiert. Jedenfalls liegt Luthers
Reformation auch fast 500 Jahre zurück.
Aber das Leben von Karl Marx
nicht. Wie viele Worte finden sich in seinem Wikipedia-Artikel? Stand vom 18.
Mai 2014 um 23.12: 13 994 Worte mit 68 Fußnoten. Aber Karl Marx? Ja, trotz
brillanter Erkenntnisse sind seine wissenschaftlichen Thesen selbst in der
zeitgenössischen Wissenschaft rückläufig. Lieber versteigt sich die derzeitige
Forschung auf vorherige Thesen wie dem Idealismus, Determinismus und andere.
Nun gut, dann rechnen wir die
Worte über zwei andere Thesen von großen deutschen Wissenschaftlern zusammen.
Max Plancks Quantenphysik aus dem Jahr 1900 und Albert Einsteins
Relativitätstheorie von 1905 beziehungsweise 1916, die sich gegenseitig
beharken. Es sind zusammen 7178 Wort mit insgesamt 20 Fußnoten (Stand: 18. Mai
2014, 23.17).
Hm, also stimmt es auch nicht,
dass eine historische Leistung, die zahlreiche Menschen bereicherte und deren
Leben vereinfachte, besondere Würdigung in der deutschen Wikipedia-Enzyklopädie
erfährt.
Doch wie kommt das? Ich wage also
einen Blick ins Ausland. Frankreich ist ein passendes Beispiel. Über Charles de Gaulles lässt sich in Frankreich nicht großartig streiten. Sein französischer
Wikipedia-Artikel umfasst 25 005 Worte bei 143 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014,
23.25). De Gaulles Zeitgenosse Konrad Adenauer bringt es dagegen nur auf 11 160
mit insgesamt 70 Fußnoten (Stand: 18. Mai, 23.42).
Der französische Artikel über die
aktuelle fünfte französische Republik zählt 25 588 Worte bei 206 Fußnoten
(Stand: 18. Mai 2014, 23.35). Das ist beachtlich, schließlich hat das Land die
Civilisation (5060 Worte am 18. Mai 2014 um 23.25) begründet. Selbst über deren
aktuellen Präsidenten Francois Hollande finden sich 11 504 Worte (Stand: 18.
Mai 2014, 23.25). Dessen Unbeliebtheit ist scheinbar ebenfalls unbestritten und
sorgt damit für eine große Wortzahl.
Dagegen finden sich im
französischen Artikel über die Équipe de France de football (französische
Fußballnationalmannschaft) 22 558 Worte mit 176 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014,
23.25).
In Frankreich wird der Fußball von
geistigen Errungenschaften mit verdienstvollen Persönlichkeiten aus der
Geschichte übertroffen. Man kann nun behaupten, dass die Französische
Fußballnationalmannschaft nicht sonderlich gut sei. Doch hat sich die
französische Nationalmannschaft in einer sich ständig professioneller werdenden
Sportart später den letzten Weltmeistertitel gesichert als die deutsche. Und
zwar im Jahr 1998, und danach den Titel eines Europameisters 2000.
Es ist zwar auch kein deutlicher
Unterschied bei der Wortzahl, aber es ist ein ganz anderes Verhältnis. Die
Franzosen können sich mit so viel mehr identifizieren. Und wir Deutsche?
Brauchen wir nun einen de Gaulles, Hollande, oder vielleicht einen Barack Obama
(englischer Wikipedia-Artikel: 23 409 Worte mit 362 Fußnoten; Stand: 19. Mai
2014, 00.35) oder Wladimir Putin (russischer Wikipedia-Artikel: 28 103 Worte
mit 581 Fußnoten, Stand: 19. Mai 2014, 00.35)? Oder was braucht es dann?
Tja, im Vorfeld und während der
Weltkriege sah sich die deutsche Bevölkerung als einziges Kulturvolk. Diese
abstruse Geisteshaltung sorgte für deren berechtigten Niedergang. Doch die
Geisteshaltung, dass Deutschland das Land der Dichter und Denker sei, hält sich
noch immer in den konservativ- bis moderat-bürgerlichen Gesellschaftsschichten
der Bevölkerung. Als wenn Frankreich, die Niederlande, Dänemark oder Russland
weniger Geistesgrößen hätten als wir Deutschen! Jedoch finden sich trotzdem so
wenige Worte für Luther, Marx und andere.
Sind also Jesus, Luther und Marx
überholt? Sicherlich nicht vollends. Doch die Deutschen wollen sich auf diese
historischen Persönlichkeiten nicht einigen oder darüber diskutieren. Und
Angela Merkel taugt auch nicht dafür. Die Anzahl an Wörtern in ihrem deutschen
Wikipedia-Artikel möchte ich ungern zählen, aber es sind 12 862 mit 145
Fußnoten (Stand: 19. Mai 2014, 00.09). Und das für eine Politikerin, die
regelmäßig die Skala der beliebtesten Politiker anführt.
Daraus lässt sich schließen, dass
sich die deutsche Bevölkerung nicht konfessionell oder politisch bekennen oder
gar pseudo-wissenschaftlich betätigen will. Lieber flüchtet es in die
Entpolitisierung, den Agnostizismus und Fußball. Dieses bedarf wenigstens keine
inhaltliche Auseinandersetzung. Und Fußball scheint für diese Mitmenschen ein
passender Ersatz. Das Fan-Sein benötigt ja auch nur übermäßigen Alkoholismus, sportspezifische
Schlaumeierei und sinnloses Gegröle.
Nichts spricht gegen die
Begeisterung für Fußball. Doch führt die steigende Fußballisierung bei
gleichzeitiger Entpolitisierung zu fatalen Überzeugungen. Mittlerweile sprechen
viele Deutsche über die eigene Fußballnationalmannschaft in der ersten Person
Plural (wir). Das ist jedoch vollkommen fehlerhaft, schließlich stehen nur elf
Mann auf dem Spielfeld und nicht 80 Millionen Deutsche.
Weiterhin führen die anhaltende
Fußballisierung und die fortschreitende Entpolitisierung zu übersteigerten
Bekenntnissen. Regelmäßig werden Neonazis bei Spielen der deutschen
Fußballnationalmannschaft ausfindig gemacht. Sei es mit einem Trikot mit der
Aufschrift „88“, was für „Heil Hitler“ steht, oder seien es die tiefen,
gewaltigen Schlachtrufe „Deutschland“. Deutschland scheint wohl wieder jemand
zu sein. Doch wer? Das entscheidet sich mit Hilfe von Titeln bei
internationalen Sportwettkämpfen.
Es ist zu hoffen, dass bei der
anstehenden Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien nicht die deutsche
Fußballnationalmannschaft den Titel holt. Jedoch hoffen das ebenfalls die
Brasilianer von ihrer Seleção (brasilianische Fußballnationalmannschaft mit
9931 Worten und 53 Fußnoten im portugiesischen Wikipedia-Artikel, Stand: 19.
Mai 2014, 01.20). Derzeit prangern die ansonsten fußballbegeisterten
Brasilianer die sozialen Missstände in ihrem Land sowie die Verschwendung im
Rahmen der WM in ihrem Land an und wollen deshalb diesen Wettkampf
boykottieren. Vielleicht können wir nun etwas von den Brasilianern lernen. Und
zwar: Fußball ist nicht alles, Fußball macht nicht satt und wohlhabend, Fußball
ist Betrug. Die Brasilianer sind um diese bewundernswerte Geisteshaltung
wirklich zu beneiden.
Dieser Post wurde am Donnerstag, dem 15. Mai 2014, auf meinem alten
Blog (http://mein-woechentlicher-aufreger.blogspot.de) zuerst veröffentlicht.
Da ich meine Zugangsdaten für den alten Blog verloren habe, erstellte ich einen
neuen. Deshalb habe ich diesen Post hier erneut eingestellt, obwohl er
vielleicht nicht mehr aktuell ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen